Teil 2: Harry Potter und die Wandteppiche „Die Dame und das Einhorn“

Harry Potter – über die Wandteppiche der spätmittelalterlichen Wandteppichserie „Die Dame und das Einhorn“, die sich heute im Cluny Museum Paris befindet.

„Die Dame und das Einhorn“ ist eine von zwei spätmittelalterlichen Wandteppichserien, die heute zu den bekanntesten ihrer Zeit zählen. Mit Nachbildungen wurden die Wände des Gryffindor Gemeinschaftsraums in den Harry Potter Filmen ausgestattet. Diese Wandteppichserie gibt es heute in verschiedensten Varianten: als Kissen, Wandteppiche mit Ausschnitten bis hin zu sehr originalgetreuen Repliken. Die Schönsten biete ich in Almerlin an, für die Einhornmotive habe ich eine eigene Kategorie.
Ihr könnt Euch also ein Stückchen Mittelalter oder „Hogwarts“ nach Hause holen!

Die Dame und das Einhorn
HarryPotter2 Dame mit Einhorn 1475 Schongauer
Darstellungen der Dame mit dem Einhorn finden sich überall in der mittelalterlichen Kunst und im Kunsthandwerk: auf elfenbeinernen Minnekästchen oder Spiegelkapseln, in zahlreichen illuminierten Handschriften, auf kleinen niederländischen Kupferstichen, auf Altarbildern wie hier auf einem im Atelier Schongauer um 1475 entstandenen und auf den großen französischen, aber auch auf deutschen Tapisserien.
Eine der großen erhaltenen Teppichserien des späten 15. Jahrhunderts, genannt „Die Jagd auf das Einhorn“ befindet sich heute im Metropolitan Museum in New York, The Cloisters, die andere, genannt „Die Dame und das Einhorn“, befindet sich im Cluny Museum in Paris. Beide sind noch durch und durch gotisch.
In der Gotik waren Tapisserien auch und vor allem „Bildteppiche“ voller Allegorien, Metaphern, Symbole und visueller Hinweise für die noch größtenteils analphabetischen Betrachter. Es ist für uns heute jedoch sehr schwer, das Dargestellte richtig zu deuten, und gerade das Einhorn war sehr beliebt und hatte verschiedenen Bedeutungen – dazu komme ich, nachdem ich Details zu „Die Dame und das Einhorn“ geschrieben habe.

Auch für die Teppichserie gibt es mehrere Deutungen.
Sicher weiß man nur eines: sie wurden für Jean Le Viste, den Präsidenten des französischen Kirchenrates gewebt, denn auf allen ist sein Wappen – auf Rot steht ein schräger blauer Balken, darauf drei silberne Halbmonde – zu sehen. Die Familie Le Viste kam wahrscheinlich aus Lyon, der Name entstand nach dem ersten Wohnort – es muss sich um einen Ort mit herrlicher Aussicht gehandelt haben (viste – Sicht, die herrliche Aus-Sicht). Ende des 15. Jahrhunderts brachten sie es zu hohen Ämtern in Paris und die (sehr sehr teure) Teppichserie sollte wahrscheinlich Macht und Ansehen demonstrieren. Außerdem scheint sie einer oder mehreren Frauen gewidmet zu sein – die Damen auf den einzelnen Teppichen haben alle ein unterschiedliches Aussehen. Vermutlich waren es mehr als sechs Teppiche, Aufzeichnungen von 1847 berichten von acht, aus dem späten 16.Jahrhundert von sieben. Seit 1882 befinden sie sich im Besitz der französischen Nation.

Momentan ist die herrschende Auffassung, dass fünf Teppiche die fünf Sinne darstellen – den Gesichtssinn (312 x 330 cm), das Gehör (368 x 290 cm), den Geschmack (375 x 460 cm), das Gefühl (369 x 358 cm) und den Geruch (368 x 322 cm). Der sechste mit dem Schriftzug „A Mon Seul Desir“ („An mein einziges Verlangen“, 376 x 473 cm) vielleicht die Entsagung von den Leidenschaften symbolisiert, die die vorangegangenen oder folgenden Sinne hervorgerufen hatten.
Wie kam es zu dieser Interpretation?
Betrachtet man die Dame genauer, so spielt sie einmal eine Art Orgel (das Gehör), dann bindet sie einen Blumenkranz (der Geruch), nimmt eine Art Konfekt aus einer Schale (der Geschmack), hält das Horn des Einhorns (das Gefühl) und dann wiederum lässt sie es sein Gesicht in einem Spiegel betrachten (der Gesichtssinn). Auf dem Teppich mit dem Zelt legt sie ein wertvolles Geschmeide in ein Kästchen zurück (sie entsagt ihrem Verlangen).
W2250 Dame mit Einhorn
Das Einhorn ist auf vier von sechs Teppichen lediglich Wappenträger zusammen mit einem Löwen und spielt keine so zentrale Rolle, wie der Name der Teppichserie vermuten lässt. Im „Gefühl“ berührt die Dame sein Horn, nur im „Gesichtssinn“ spielt es eine wichtige Rolle. Es liegt mit seinen Vorderhufen auf dem Schoß der (Jung)Frau und erblickt sein Gesicht in einem Spiegel. Es könnte hier auch die geheime Leidenschaft der Dame oder ihren Liebhaber symbolisieren, der reflektierende Spiegel in ihrer Hand würde eine Erwiderung dieser Liebe bedeuten.
Alle sechs dargestellten Damen sind verschieden. Die auf vier Teppichen dargestellten Dienerinnen sollen wahrscheinlich in erster Linie ihren aristokratischen Stand betonen (deshalb sind sie, wie in der mittelalterlichen Kunst üblich, immer kleiner als die Hauptperson dargestellt).
Allen Teppichen gemeinsam ist der rote Hintergrund, flächig bedeckt mit Zweigen, Laubwerk und verschiedenen Tieren, darunter Vögel, Kaninchen, Lämmer, Füchse, Katzen, Wiesel, Ziegen und Hunde. Die zentralen Figuren befinden sich stets auf einer vorwiegend blauen „Mille Fleurs“ Insel (siehe unter „Mille Fleurs“), aus der als optische Einrahmung mindestens zwei mitunter eher strauchartige Bäume wachsen. Es handelt sich um verschiedene Baumarten, die in der mittelalterlichen Symbolik unterschiedliche Tugenden symbolisieren – beispielsweise die Eiche Standhaftigkeit. Auf ihr befinden sich auch mehrere Tiere; interessant ist ein Affe auf drei Teppichen, der an einer Blume riecht (der Geruch) und eine kandierte Frucht probiert (der Geschmack) und ein weißer Schoßhund auf einem kostbaren Kissen (Desir).
Auf jeden Fall handelt es sich hier um prachtvolle Beispiele spätmittelalterlicher Weberkunst, wie sie zu deuten sind und ob sie überhaupt eine tiefere Bedeutung haben müssen, bleibt jedem Betrachter selbst überlassen… Bei einem Aufenthalt in Paris empfiehlt sich in jedem Fall ein Besuch des Cluny Museums, das viele Tapisserien beherbergt.

Das Einhorn (lat. Monozerus)
W6250 kleines Einhorn
Heute kennen wir das Einhorn als weißes kleines Pferd mit gedrehtem Horn (das Bild zeigt ein Wandteppich Motiv von William Morris und Edward Burne Jones W6250), im Mittelalter aber waren die Darstellungen viel variabler. Es hatte die Größe einer Ziege bis hin zu der eines stattlichen Hirsches, oft zottiges Fell und gespaltene Hufe und das Horn konnte auch glatt und gebogen sein.
Von allen phantastischen Tieren besitzt das Einhorn eine ebenso lange Geschichte wie der gleichfalls mythische Drachen. So findet sich schon in der assyrischen Kunst die Darstellung einer Art Stier mit einem Horn. Als eher pferdeartiges Tier erscheint es zuerst in griechischen Texten. Julius Cäsar beschreibt um 50 v.Chr. ein wildes Tier mit einem einzelnen geraden Horn auf der Stirn, das in Germaniens Wäldern lebt. Buddha erwähnte es, auch in der traditionellen chinesischen Literatur und in Japan kannte man das Einhorn. Selbst In der Bibel wird das Einhorn im Buch Hiob wie ein wirkliches Tier behandelt.

Besonders häufig findet sich das Einhorn in mittelalterlichen Bestiarien. Ein Bestiar war eine Art Textbuch christlicher moralischer Prinzipien, in denen jedes Prinzip und manchmal sein Gegenteil sorgfältig mit einer Geschichte über ein bestimmtes Tier in Verbindung gebracht wurde. Bestiarien waren so populär wie heute Tierbücher, Enzyklopädien über die merkwürdigen und wunderbaren Tiere der Erde
(viele gibt es tatsächlich, einige existieren jedoch nur im Volksglauben, wie Basilisk, Kentaur, Manticora, Drache, Yala etc.).
Bestiarien
– Physiologus. 2. Jh. ( Physiologus. Aus d. Griech. übers. u. hrsg. von Ursula Treu. Hanau 1981)
– Isidor von Sevilla: Etymologia. Buch 12: De animalibus. 6./7. Jh.
– Honorius Augustodunensis: De bestiis et aliis rebus (Von Tieren und anderen Dingen). 11. Jh.
– Philippe de Thaon: Bestiaire, um 1121
– Hugo von Sankt Viktor: Liber de bestiis et aliis rebus, 12. Jh.
– Guillaume le Clerc: Bestiaire divin, um 1210
– Bestiario moralizzato, 14. Jh.
HarryPotter2 das letzte EinhornSeinem Horn wurde die Fähigkeit zugeschrieben, Gift entdecken und neutralisieren zu können. Dementsprechend hoch gehandelt wurde es an den europäischen Adelshöfen (es handelte sich dabei um das Horn des Narwals, das heute noch viele Sammlungen beherbergen).
Es galt als ein wildes und freies (jedoch nicht angriffslustiges) Tier, das nur von einer Jungfrau gefangen werden konnte. Von ihrer Reinheit und Bescheidenheit ins Herz getroffen, hält das Einhorn bewegungslos inne. Als das Einhorn erst einmal definitiv mit der Dame in Verbindung gebracht worden war, übernahm es viele Aspekte ihrer Reinheit und Keuschheit und dies so sehr, dass das Einhorn nicht nur die Präsenz der Keuschheit bedeutete, sondern dass es selbst gezeigt wurde, wie es Flüsse und Bäche reinigt, indem es sein Horn ins Wasser hält.
(das abgebildete Einhorn kennen viele sicher aus dem Zeichentrickfilm „Das letzte Einhorn“, wo es im Vorspann zu sehen ist – es handelt sich um ein Motiv aus der Wandteppichserie „Die Jagd auf das Einhorn“ – leider nicht als Wandteppich erhältlich).
Durch diese Reinheit machte es die Kirche zu einem Symbol Christi und versuchte das mystische Einhorn so zu christianisieren. Im Hinblick auf die Reinheit entspricht dem Einhorn übrigens das nordeuropäische Große Wiesel, nach seinem weißen Winterpelz mit der schwarzen Schwanzspitze auch Hermelin genannt. Die Roben der britischen Richter werden noch heute mit Hermelin oder einer synthetischen Kopie besetzt, um ihre reinen Beweggründe zu symbolisieren.
HarryPotter Einhorn St.Gotthardt Kirche
Das Motiv der Dame mit dem Einhorn symbolisierte jedoch gleichzeitig auch die Darstellung des Liebhabers im Banne der Geliebten (hier: Ausschnitt aus dem Bildteppich der St. Gotthardt Kirche zu Brandenburg). Vor dem Beginn des 16.Jahrhunderts war die mystische Natur des Einhorn – Fangens zu einer Metapher des Liebenden geworden, der von der Zuneigung zu seiner Geliebten bis zur Selbstaufgabe überwältigt wird.
W2019  gezähmtes Einhorn Mittelalter
Das Horn steht für Männlichkeit (;-)) und das wilde Einhorn symbolisiert die ungezähmten Triebe und das wilde Verlangen des Mannes, die nur von einer Frau sozusagen in zivilisierte Bahnen gelenkt (und in der Ehe kultiviert) werden konnten – allerdings musste sie dafür ihre Jungfräulichkeit opfern. Eine schöne Metapher,oder? Nur die Frau kann das Tier im Manne zähmen… Friedlich liegt es dann angebunden in einem umzäunten (d.h. kultivierten) Garten – Einhorn in Gefangenschaft.

Darstellungen der Jagd auf ein Einhorn beruhen nahezu immer auf der Hirschjagd, einer besonderen adligen Freizeitbeschäftigung, die von strengen Regeln bestimmt wurde. Ganze Bücher sind darüber verfasst worden.

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