(1) Mittelalter:“Was gab es ab wann?“ – der beschwerliche Weg zur authentischen Darstellung

Eine durchaus vergnügliche Reise durch die Besonderheiten und Absonderlichkeiten „authentischer“ mittelalterlicher Gewandung des 14. bis 16. Jahrhunderts

😉 „Das ist nicht echt, das hat es so zu dieser Zeit noch nicht gegeben.“
😉 „Essen Sie das, was da gekocht wird auch?“
😉 „Schlafen Sie in den Zelten?“
😉 „Nein, die Rüstung ist nicht echt, so groß sind die zu der Zeit nicht gewesen.“
Welcher Reenactor kennt sie nicht: solche oder ähnliche Aussagen des Publikums.
Daneben gibt es aber auch diesen 🙁 Satz des (ein)gebildeten geschichtlichen Darstellers: „Das ist nicht 😳 😳 😳 authentisch, das hat es so zu dieser Zeit nicht gegeben!“ (Interessanterweise oft im Sinne von, dass die Menschen des Mittelalters das so noch nicht konnten)
Oder andersherum, ein gutgebauter Recke im grobgewebten Wams („handgewebt“)und im Brustton der Überzeugung: „Das ist voll authentisch, das habe ich sogar selbst von Hand genäht!“

Ja was ist denn nun richtig, was ist denn „authentisch“?

Jeder, der dem Hobby „Mittelalter“ verfällt und auf Märkte fährt und sich dafür entsprechend ausrüsten möchte, stellt sich beim Fertigen von Gewandung, Ausrüstung, Lager- und Zeltausstattung immer wieder die gleiche Frage: „Hat es das so schon zu dieser Zeit gegeben?“

Diese Frage stellte ich mir auch, als ich mein erstes spätmittelalterliches Gewand angefertigt habe – das war im Jahr 1999, damals noch ohne jeglichen Kontakt zur „Szene“. Ein Adelsgewand im Stil der burgundischen Hofmode – Untergewand, Obergewand, Umhang, Kopfbedeckung, Schmuck, Schuhwerk, Accessoires – wollte ich haben. Eines musste ich bei meinen Recherchen ganz schnell feststellen:
Es kann garnicht prunkvoll und schön genug sein. Nicht nur Adel und betuchte Kaufleute; Handwerker, Bürger, Bauern, Söldner – keiner war so farblos, einfach, grobstoffig oder formlos gekleidet, wie heute viele meinen. Ob Stoffe, ob Farben, ob Muster, ob Borten, Verzierungen oder Schmuck…alles war filigran, kostbar, fein gearbeitet. Alles, was ich zur burgundischen Mode recherchierte, machte mir klar: so edel kann ich es nicht nachfertigen, auch wenn ich mir 1 Jahr Zeit dafür gegeben hatte.

Als ich im Jahr 2000 auf die ersten Märkte gefahren bin, gab es quasi die „Bibel“ des Spätmittelalterdarstellers: „Söldnerleben im Mittelalter“ von Gerry Embleton und John Howe über die Compagnie of Saint George aus der Schweiz. So wie auf diesen Fotos dargestellt war es garantiert „a“….es gab quasi ein Reenactment dieses Reenactments. Die Gewandung wurde nachgenäht, Gürtel, Taschen, Beutel, Dolche ließ man sich so nachmachen, die Rüstungen schienen unerreichbar, die Gambesons bekam man so ab 2005 bei Matuls (fantastisches Preis-Leistungsverhältnis!). Letztlich ist dieses Buch eine Interpretation alter Quellen durch die Mitglieder der Compagnie – eine von vielen. Aber mit Sicherheit ist es ein Meilenstein auf dem Weg korrekter spätmittelalterlicher Darstellung was Gewandung und Ausrüstung für den Kampf betrifft! Allerdings ging das „Compagnie-Reenactment“ zu Lasten der großen Vielfalt, gerade was Accessoires, Kopfbedeckungen, Farbkombination etc. betrifft. Das hat sich mittlerweile geändert… 🙂

In diversen „was ist authentisch“ Diskussionen traten für mich immer wieder Diskrepanzen auf zwischen dem, was der Reenactor da im Brustton der Überzeugung erklärte und dem, was ich selbst recherchiert hatte. Auch den neu aufgelegten Büchern über Gewandung und ihre Zuschnitte lag oft eine theoretische Interpretation alter Gemälde oder Texte am Schreibtisch und keine Praktische aus Sicht beispielsweise eines Gewand- oder Maßschneiders zu Grunde. Hmmm.

Ich selbst habe Ausbildungen zum Schneider und Raumausstatter abgeschlossen und nähe seit meinem 14. Lebensjahr. Das hat mir bei der Ergründung der Geheimnisse alter Schnitte und bei der Schnittkonstruktion sehr geholfen, da ich von der praktischen Seite herangehen konnte und nicht nur theoretisch.:

💡 warum waren an dieser Stelle Nähte?
💡 wie entsteht solch ein Faltenwurf?
💡 wie erreiche ich mit dieser Ärmelform eine gute Beweglichkeit?
💡 warum sollte der Schneider etwas absichtlich unlogisch oder unpraktisch, stoffverschwendend oder kompliziert fertigen
(beispielsweise das berühmte Dreieck oben im Rücken am spätmittelalterlichen Männerwams – kein Schneider schneidet ein Dreieck heraus, um es dann wieder einzunähen)

Beim Fertigen meines (Prunk)Gewandes merkte ich, dass die wahre Kunst beim Fertigen eines historischen Kleidungsstückes des Spätmittelalters/ der Frührenaissance nicht darin besteht, es wie früher von Hand zu nähen (die damaligen Handstiche entsprechen unseren kleinen Nähmaschinenstichen!), sondern darin, den richtigen Schnitt zu entwickeln. „Schneider“ französisch Tailleur – diese Bezeichnungen zeigen, was das Entscheidende beim Fertigen von Kleidung ist: der (Zu)schnitt. 

Ich musste immer wieder die Genialität der mittelalterlichen Schnitte anerkennen, die Raffinesse und Funktionalität. Ähnlich einem Reenactor, der eine Rüstung replizieren lässt und beim Tragen feststellt, wie beweglich er immer ist und trotzdem gut geschützt…
Natürlich darf man bei manchen Schnitten nicht außer Acht lassen, dass in dieser Zeit mit der „Unbequemlichkeit“ der Kleidung auch ganz klar der Status, des „nicht-körperlich-arbeiten-müssens“ gezeigt wurde, heute im Reenactor „Alltag“ meist schwierig darstellbar… 😉

Der Beruf des Schneiders entstand im 12. Jahrhundert (in Deutschland erstmals erwähnt 1135 Köln) nicht, weil das Nähen so kompliziert wurde, sondern weil die Kleidung immer körperformender und figurbetonter wurde. Da es in dem Sinne noch keine elastischen Stoffe gab, wurde die Kleidung aus immer mehr Schnittteilen geformt, was zunehmend mehr Teile und Kenntnis des Stoffes erforderte. Die bis dahin getragenen bis zum Boden reichenden, hemdartigen Kleidungsstücke, die für adlige Männer und Frauen gleich waren – bei den einfachen und normalen Menschen war das hemdarige Gewand der Frau ein langes Kleid, das des Mannes ein kürzerer Kittel mit Beinlingen, Wadenwickeln etc. – waren einfach geschnitten und so auch einfach zuzuschneiden. Die körperbetonte Mode war Maßarbeit und nicht mehr so einfach zuzuschneiden. So wie kostbare Stoffe nicht am heimischen Webstuhl entstanden, so entstand aufwändig geschnittene Gewandung nicht in der heimischen Nähstube. Nach und nach verzweigte sich das Gewerk der Kleidungsfertigung, so wie die Herstellung eines guten Schwertes 6 verschiedene Handwerker erforderte.
So gab es Pelznäher (Kürschner), Flickschneider, Hemdennäherinnen, Seidenstickerinnen, Bortenstickerinnen…

😉 „Herein, wenns kein Schneider ist…“, dieser Ausspruch entstammt dem späten Mittelalter, wo so mancher ob seiner Prunksucht hohe Schulden beim Schneider hatte und nur ungern an die Begleichung selbiger erinnert werden wollte.
😉 Und noch etwas, Ihr großen kräftigen Recken, Ritter, Söldner und Helden der mittelalterlichen Darstellung, die ihr voller Stolz auf eure eigenhändig gefertigte und ohne technische Hilfsmittel der Neuzeit von Hand genähte Gewandung verweist: der Beruf des Schneiders stand in keinem hohen Ansehen, galt doch bis weit ins 19. Jahrhundert Näharbeit allgemeinhin als Weibersache und der Schneider somit als unmännlich, weibisch und Schwächling 😉 („Siebene auf einen Streich“ = 7 Fliegen in Das tapfere Schneiderlein). „Ein ganzer Kerl“ gibt also besser nicht öffentlich zu, Nadel und Faden in die Hand genommen zu haben 😀 😀 !

Ein spannendes und interessantes Thema…ich werde meine Recherchen, meine Quellen und meine Erkenntnisse zu den verschiedenen Elementen mittelalterlicher Gewandung nach und nach in meinem Blog teilen, wobei ich schwerpunktmäßig das 14. – 16. Jahrhundert recherchiert habe, da ich 10 Jahre Vorstandsmitglied in einem spätmittelalterlichen Verein war.
Sozusagen mein

ERSTERWÄHNUNGSLEXIKON

2 Antworten von (1) Mittelalter:“Was gab es ab wann?“ – der beschwerliche Weg zur authentischen Darstellung

  1. Klasse geschrieben – und, Du sprichst mir aus dem Herzen 🙂
    Bitte mehr der recherchierten Details, es ist sehr interessant!

    • Ich bin dabei 🙂 – es hat sich einiges an Material angesammelt, vor 2010 gabs ja noch nicht viel im Web; hab zig Seiten aus Büchern kopiert, selbst eine umfangreiche antiquarische Sammlung und Tausende Fotos…und vieles selbst ausprobiert ; -)
      Das werden noch jede Menge Beiträge!

Hinterlassen Sie einen Kommentar!